Drei Komponisten, drei Länder, drei unterschiedliche musikalische Ansätze: George Li tritt mit „Movements. Schumann, Ravel & Stravinsky“ die Beweisführung dafür an, dass man daraus ein stringentes Album schaffen kann. Der Kniff des chinesisch-amerikanischen Pianisten zeigt sich schon im Albumtitel: „Movements“, das bedeutet in der klassischen Musik für gewöhnlich Sätze. Hier lässt sich der Begriff aber auch wörtlich als Bewegungen verstehen. Nichts anderes sind schließlich Tänze. Diese hören wir auf Lis neuem Album, und zwar von Robert Schumann, Maurice Ravel und Igor Strawinsky. „Obwohl diese Werke aus völlig verschiedenen Epochen und Kulturen stammen, beeinflussen sich einige ihrer Elemente gegenseitig. So werden überraschende Verbindungen zwischen den einzelnen Stücken sichtbar“, sagt er gegenüber Apple Music. Die Idee des Albums, das während des Corona-Lockdowns entstand, war also, diese Verbindungen aufzuzeigen und zu einer geschlossenen musikalischen Erzählung zu verknüpfen.
Dabei orientierte sich Li an strukturellen Parallelen, etwa zwischen Schumanns „Davidsbündlertänzen“ und Ravels „Valses nobles et sentimentales“: „In diesen zwei Werken gibt es jeweils eine zyklische Komponente. Beide enden mit wiederkehrenden melodischen Motiven. Das schafft ein befriedigendes und auch bewegendes Erlebnis für die Zuhörer:innen“, erläutert der Pianist. „Schumann und Ravel nutzen zudem gemeinsame Töne. So verändern sie den musikalischen Charakter ihrer Stücke auf harmonische Art und Weise.“ In Strawinskys Werken findet sich ebenfalls musikalische Regelmäßigkeit: „Dort tauchen rhythmische und melodische Motive wie der Petruschka-Akkord immer wieder auf und helfen so, eine stärkere Klangarchitektur zu entwickeln.“ Zudem seien sowohl Ravels als auch Strawinskys Werke direkt von Orchester- und Ballettmusik beeinflusst. „Damit zeigen beide, wie man Verbindungen und kohärente Strukturen schaffen kann, selbst wenn das Hauptwerk aus kürzeren Stücken besteht.“ Aber auch die jeweilige Identität der verschiedenen Tänze sei von großer Bedeutung: „Ich denke, diese lässt sich am besten herausarbeiten, indem man sich der musikalischen Atmosphäre und den Harmonien der Partitur hingibt. Diese liefern die Details und die Textur, um eine spezifische Atmosphäre und eine eigene Stimmung zu erschaffen.“
Dynamik entsteht durch die unterschiedlichen Ansätze der drei Komponisten. Hier Schumann, der mit den „Davidsbündlertänzen“ vor allem einen Blick in seinen eigenen Gefühlshaushalt gestattet: „Die Davidsbündler sind eine Gruppe von realen und imaginären Figuren aus Schumanns Gesellschaft, die die zeitgenössische Musik ihrer Zeit verteidigen und für die Fortsetzung der experimentellen Entwicklung von Kunst und Musik kämpfen. Schumann selbst tut dies durch die explizite Personifizierung seiner Fantasiefiguren Florestan und Eusebius, die in der Partitur nach jedem Tanz vermerkt sind.“ Infolgedessen sei jeder einzelne von Schumanns Tänzen individuell und habe seine eigene Stimme, so Li. „Einer meiner Lehrer:innen, Russell Sherman, erinnert uns jedoch daran: ‚Am Ende darf man nicht vergessen, dass es ein Tanz ist!‘“ Bei Ravel hingegen stehe die äußere Form im Vordergrund. Sie markiere das Ende einer Tradition. „Für mich scheint Ravel dem Walzer Lebewohl zu sagen. Das Ergebnis ist eine sehr gespenstische, eindringliche, aber schöne Atmosphäre.“ Strawinskys Ansatz ist schließlich rustikaler: „Das Ballett spielt in einem russischen Dorf. Ein Zauberer erweckt drei Puppen zum Leben – Petruschka ist eine von ihnen.“ Die Verwendung von synkopierten rhythmischen Mustern und traditionellen Volksmelodien helfe dabei, das Publikum mitten in die Szenerie zu versetzen und das Werk dadurch lebendig erscheinen zu lassen.
Die Musik auf diesem Album spiegelt auch drei verschiedene Länder und Lebensweisen wider. „Natürlich sollte man die Eigenheiten verschiedener Kulturen nicht allzu sehr verallgemeinern. Ich denke aber schon, dass sie das Temperament der jeweiligen Stücke prägen.“ So habe die romantische und literarische Welt, in der Schumann lebte, Auswirkungen auf seine Kompositionsweise gehabt: „Diese Welt ist sehr vielschichtig und voller Bezüge, etwa zu deutscher Lyrik, deutschem Liedgut oder Franz Schubert. Natürlich beeinflussen Schumanns eigene Psychologie und seine komplexen Stimmungsschwankungen auch seinen Schreibstil. Doch die Form dieser charakteristischen Tänze ähnelt der von Komponist:innen wie Frédéric Chopin und Felix Mendelssohn Bartholdy. Bei Ravel verbinden sich das Flair und die Stimmung Wiens mit zarten, aber bunten französischen Farben – die ‚Valses‘ finden in einer klar definierten Atmosphäre statt. Und in Strawinskys Werken stecken russische Volksmusik und Tanz.“
Li passt seine Spielweise dem spezifischen Charakter der einzelnen Stücke an. „Bei Schumann verändert sich mein Anschlag ständig, da seine Arbeiten sehr individuelle Züge besitzen“, sagt er. Bei Ravel hingegen denkt der Musiker an „verflüssigte und duftende Klänge“. Flexibilität sei vonnöten, um die Vielschichtigkeit und die emotionalen Nuancen dieser Kompositionen zum Ausdruck zu bringen. In Strawinskys großzügigen Werken gehe es um einen breit angelegten, genau definierten und brillanten Klang. „Meine Hände agieren viel fester und kraftvoller, um den sehr präzisen Rhythmus der Tänze sowie deren verschiedene orchestrale Farben zu erfassen.“
Übrigens ist das Album keineswegs ein abgeschlossenes Projekt. Während der Aufführungen der Stücke hat sich bereits einiges geändert. Die Musik, das Publikum, das Instrument, all das sei während seiner Konzerte magischen Wechselwirkungen unterworfen, erklärt Li: „Die Inspiration auf der Bühne lässt mich die Stücke immer wieder unterschiedlich wahrnehmen. Manchmal dauert es eine Weile, bis die Musik noch überzeugender wird, oder, wie meine Lehrerin Frau [Wha Kyung] Byun sagt, ‚irgendetwas passiert‘. Es ist also nichts in Stein gemeißelt. Es braucht aber einen allgemeinen Rahmen, ein Gerüst von Strukturen und Richtlinien, auf dem die Interpretation basiert. Das kann dann als Startpunkt für die verschiedensten Experimente dienen.“
Bleibt die Frage nach den persönlichen Favoriten des Pianisten. „Ich habe in diese Stücke viel Zeit und Energie gesteckt. Alle bedeuten mir eine Menge.“ Hervorheben möchte Li indes die letzten beiden „Davidsbündlertänze“: Hier gibt es nach einer langen Reise mit vielen verschiedenen Stimmungen und Charakteren eine Wiederbegegnung mit dem zweiten Tanz. „In h-Moll taucht er aus der Stille des vorangegangenen Tanzes wieder auf. Ich spüre, dass sich seine Stimmung verändert hat. Er ist noch müder und leerer als ursprünglich. Das Gefühl von Trauer und Verzweiflung entwickelt sich in der Coda des Satzes zu einem Crescendo. Darauf folgt der letzte Tanz, der sehr ruhig, zart und schlicht anmutet. Er ist zwar bittersüß, wirkt aber auf mich wie ein Bild aus der Kindheit, das nach vielen Gefühlsschwankungen zu einer tröstenden Decke wird. Das ist ein so bewegender wie schöner Schlusspunkt.“