Jahrzehntelang konnte sich niemand vorstellen, dass Frédéric Chopin seine Präludien, immerhin 24 an der Zahl, für eine Aufführung in ihrer Gesamtheit vorgesehen hatte. Ein Präludium ist schließlich ein Vorspiel – und dem wird wohl kaum ein weiteres Vorspiel folgen. Erst als in den frühen 1900er-Jahren der Komponist und Pianist Ferruccio Busoni begann, das Werk als Ganzes aufzuführen, wurde diese Praxis von anderen übernommen und bald zum Standard. Mao Fujita rückt Chopins überragenden Meilenstein des Repertoires nun in ein neues Licht. Ein Paar unterschiedlicher, aber gut passender Präludienwerke dient dabei als Ergänzung: Auch die zwei Dutzend schillernden Miniaturen von Alexander Skrjabin und eine ebenso bemerkenswerte Sammlung von Akio Yashiro finden sich auf dem Album.
Das künstlerische Vorhaben des japanischen Pianisten entspricht ganz dem radikalen Charakter von Chopins Originalidee. Es zelebriert vor allem die scheinbar unendliche Vielfalt des Genres. Diese reicht von Stücken, die auf einfachen Melodien oder Akkordfolgen basieren, bis hin zu umfangreichen Werken, die hohe technische und künstlerische Anforderungen an die Spieler:innen stellen. „Mein letztes Album enthielt sämtliche Klaviersonaten von [Wolfgang Amadeus] Mozart, daher ist dieses Album ganz anders“, sagt Fujita gegenüber Apple Music Classical. „Ich fordere mich selbst immer heraus und möchte neue Entdeckungen machen. So unterscheidet sich jedes dieser Präludien von Frédéric Chopin, Alexander Skrjabin und Akio Yashiro, die oft nur ein oder zwei Minuten dauern, erheblich von einer Mozart-Sonate. Ich habe an die drei Jahre damit verbracht, meine Mozart-Interpretationen zu erarbeiten, und musste mich dann auf die Darbietung dieser Präludien konzentrieren. Das war die neue Herausforderung für mich.“
Chopin komponierte seine Präludien im Jahr 1839. Skrjabin war im späten Teenageralter, als er ein halbes Jahrhundert später mit seiner Reihe begann. Yashiro zählte gerade einmal 15 Jahre, als er 1945 seine Präludien schrieb – eine erstaunliche Leistung angesichts seines Alters und der Tatsache, dass seine Heimatstadt Tokio noch immer unter den Folgen des tödlichsten Luftangriffs des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatte. Yashiros Präludien blieben bis 2022 unveröffentlicht, nur wenigen Pianist:innen waren sie dank allmählich verblassender Fotokopien der Partiturmanuskripte bekannt. „Ich war sehr neugierig darauf, sie zu sehen, und kaufte sofort die erste Ausgabe“, sagt Fujita. „So hatte ich Yashiro bereits im Kopf, als ich begann, meine nächste Aufnahme zu besprechen.“ Die Idee, 72 Präludien von drei verschiedenen Komponisten zu kombinieren, darunter einer, der außerhalb Japans kaum bekannt ist, klang sicherlich wie der Wunschtraum aller, die Klavier spielen. Aber Mao Fujita argumentierte überzeugend und bekam dank einer verlockenden kulinarischen Metapher grünes Licht für sein Projekt: „Der Chopin ist wie Fisch und der Skrjabin wie Reis“, erklärt er. „Das ist eine typische Mahlzeit. Aber wenn man sie mit Yashiro zusammenbringt, hat man Wasabi. Das ist die besondere Note dieses Albums.“
Die Vorgeschichte von Yashiros Präludien begann mit der staatlich geförderten Einführung westlicher klassischer Musik im Japan im frühen 20. Jahrhundert. In seiner Kindheit verliebte er sich in das Basisrepertoire und vertiefte seine Kenntnisse, indem er die Radiosendungen des NHK Symphony Orchestra aus der Kriegszeit hörte. Fujita lernte die Witwe des Komponisten kennen und erfuhr von ihr von dessen Liebe zu Chopin. „Sie ist eine sehr nette Person und erzählte mir eine Menge über ihn“, erinnert er sich. Nach Abschluss seines Studiums bei Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium Mitte der 1950er-Jahre schrieb Yashiro nur fünf oder sechs bedeutende Werke, darunter Konzerte für Cello und Klavier und eine Sinfonie. Er starb 1976 an einem Herzstillstand.
„Yashiro nahm sich für die Komposition eines Stückes viel Zeit. Vielleicht eine Woche für eine Phrase, dann eine Woche für die nächste. Bei den Präludien agierte er wesentlich freier. Er war stark von Chopin beeinflusst. Man hört zum Beispiel Anklänge an Chopins Harmonien in seinem ‚Prélude Nr. 23‘. Und Chopins Arpeggio-Stil findet sich im ‚Prélude Nr. 9‘. Aber er brachte auch viele japanische Elemente in diese Stücke ein, vor allem die pentatonische Tonleiter.“
Fujita stellt in allen drei Präludien die Gesangslinie in den Vordergrund, formt die Melodien und Basslinien und achtet dabei sehr auf das Innenleben der Musik. „Es gibt so viele schöne Kontrapunkte, besonders bei Chopin und Skrjabin. Manchmal sind sie wichtiger als die Hauptstimme“, sagt er. „Jedes Stück hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Farben und seine eigene Sprache auf dem Klavier. So habe ich gelernt, dass Skrjabin ganz anders ist als Chopin und dass sich beide von Yashiro unterscheiden. Ich liebe diese Art des Entdeckungsprozesses.