

Anfang 2025 entdeckte Kirill Gerstein eine einzigartige Liveaufnahme aus dem Jahr 2012 wieder, auf der die Jazz-Vibrafon-Legende Gary Burton zusammen mit Gerstein Chick Coreas „The Visitors“ spielte. Ihm war sofort klar, dass er einen Weg finden musste, sie zu veröffentlichen. Das Stück vereinte nicht nur Gerstein mit seinem früheren Lehrer und Mentor Burton, sondern bringt auch die Talente von Burton, Corea und Produzent Manfred Eicher zusammen – ein Trio, das bereits in den 1970er-Jahren einige der bedeutendsten Jazzalben geschaffen hatte. Burton und Gerstein begegneten sich zum ersten Mal im November 1991 hinter der Bühne eines Jazzfestivals in St. Petersburg. „Ich dachte, Kirill ist der Sohn von Musiker:innen“, erzählt Burton im Gespräch mit Apple Music Classical. Doch der 14‑jährige Gerstein war selbst ein Künstler – und schon bald kamen die beiden ins Gespräch. „Kirill brachte mir eine Kassette ins Hotel“, fährt Burton fort. „Ich habe sie mir erst ein oder zwei Wochen später anhören können und war überwältigt. Es klang so reif. Es erinnerte mich an Keith Jarretts Soloklavierstil. Da war für mich sofort klar: Dieser Junge muss raus in die Welt.“ Als Vizepräsident des Bostoner Jazzkonservatoriums Berklee College of Music war Burton entschlossen, Gersteins Talent zu fördern, und nach einigen Jahren juristischer und politischer Bürokratie wurde Gerstein der jüngste Student in der Geschichte Berklees. „Es war erstaunlich“, erinnert sich der Pianist. „In einer Ensemble-Klasse oder im Unterricht spielten Lehrer:innen normalerweise mit dir zusammen. Er stand vom Schreibtisch auf und es kam plötzlich dieser unverwechselbare Gary-Burton-Sound zum Vorschein.“ 2010 hatte Gerstein hatte seine professionelle Jazzkarriere längst hinter sich gelassen und war inzwischen als klassischer Pianist erfolgreich. Er und Burton hatten über die Jahre hinweg sporadisch Kontakt gehalten. In jenem Jahr wurde Gerstein als sechster Gewinner des Gilmore Artist Award ausgezeichnet und erhielt ein Preisgeld von 300.000 US‑Dollar. Einen Großteil davon nutzte er, um Komponist:innen aus der Klassik- und Jazzwelt mit der Komposition neuer Stücke zu beauftragen. Für die Jazzkomponist:innen war das Ziel, so der Pianist, „sie herauszufordern, sich in einem Medium zu bewegen, in dem sie mehr notieren müssen, als sie es sonst gewohnt sind. Ich möchte zeigen, dass die Grenzen zwischen notierter und improvisierter Musik durchlässig sind.“ Einer dieser Komponist:innen war Chick Corea, der zu den größten Jazzpianist:innen und -komponist:innen aller Zeiten zählt. Chick Corea und Burton verband eine jahrzehntelange musikalische Partnerschaft, bevor er 2021 an Krebs verstarb. „Ich weiß noch, wie ich [das ECM-Album] „Crystal Silence“ mit Gary und Chick gekauft habe“, sagt Gerstein. „‚Crystal Silence‘ war damals eher ein Geheimtipp – nur wenige kannten es“, erzählt Burton. „[Aber] es wurde tatsächlich ziemlich erfolgreich. Plötzlich gab es unzählige Konzertanfragen. „So begann eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit weiteren Alben und Tourneen. Am Ende wurde es zur wichtigsten Kollaboration meiner Karriere.“ Chick Coreas „The Visitors“ ist hier in einer wiederentdeckten Liveaufnahme vom Gilmore International Piano Festival 2012 in Kalamazoo, Michigan, zu hören. Die Musik ist für Vibrafon und Klavier geschrieben – teils durchkomponiert, teils improvisiert – und erkundet die Virtuosität, interpretatorische Tiefe und spontane Kreativität, für die sowohl Burton als auch Gerstein bekannt sind. „Chick konnte es so schreiben, dass es klingt, als würde er durch mich sprechen“, sagt Gerstein. „Man spürt den Komponisten am Klavier.“ Gleichzeitig, fügt er hinzu, habe die Musik etwas Universelles. Die Eröffnungstakte von „The Visitors“ weisen deutliche Einflüsse osteuropäischer Musik des 20. Jahrhunderts auf. „Eine der großen Inspirationsquellen für Chick war die Musik von Béla Bartók“, sagt der Pianist, „und er hat sich schon in den 70er-Jahren damit auseinandergesetzt.“ Tatsächlich enthält das Livealbum „CoreaHancock“ von 1979 – eine Zusammenstellung von Aufnahmen aus dem Jahr 1978 mit Corea und Herbie Hancock – eine wilde Version für zwei Klaviere des „Ostinato“ aus Band VI von Bartóks „Mikrokosmos“. Die Interaktionen zwischen Gerstein und Burton wirken völlig natürlich, jeder reagiert auf den anderen – fast so, als würden sie musikalisch die Sätze des anderen beenden. „Ein Duett ist einzigartig, weil es ein Gespräch zwischen zwei Stimmen ist“, sagt Burton, „aber im Gegensatz zur Sprache, bei der man abwechselnd spricht und antwortet, reden beim gemeinsamen Musizieren beide gleichzeitig.“ Für Burton, der sich inzwischen von der Bühne zurückgezogen hat, bringt diese Aufnahme viele Facetten seiner früheren musikalischen Laufbahn zusammen – darunter die Zusammenarbeit mit Eicher, dem Gründer von ECM, der darauf bestand, die Liveaufnahme persönlich für die Veröffentlichung durch sein Label zu mischen. „‚Crystal Silence‘ von 1972 war die erste Platte, die ich mit Chick gemacht habe“, sagt Burton. „Ich habe zwei Jahrzehnte lang für ECM aufgenommen. Uns verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Ich schreibe es der Tatsache zu, dass ich durch die Zusammenarbeit mit Manfred endlich gelernt habe, wie man Platten macht. Mit Chick posthum zurückzukehren, ist für mich ein wunderbarer Abschluss der Geschichte mit ECM und Manfred.“ Steht also ein ECM-Album für Kirill Gerstein an? „Wer weiß? Wir gehen es Schritt für Schritt an“, sagt er. „Es gibt Überraschungen – auch welche, mit denen wir alle noch nicht rechnen.“
11. Juli 2025 2 Titel, 20 Minuten ℗ 2025 ECM Records GmbH, under exclusive license to Deutsche Grammophon GmbH, Berlin
MUSIKLABEL
ECM RecordsAuf diesem Album
Oliver Condy
Künstler:in
Produktion
- Manfred EicherAusführende:r Produzent:in
- Sebastian NattkemperIngenieur:in
- Michael HinreinerMischtechniker:in, Mastering-Ingenieur:in
- Manfred EicherMischtechniker:in, Mastering-Ingenieur:in
- Michael SchweppeAufnahmeingenieur:in